Parkplatz

Joaquin war nochmal schnell ins Gebäude und hatte sein Fahrrad einfach auf dem Parkplatz liegen lassen. Die Zeit in der er es nochmal am Fahrradständer angekettet hätte wäre unnötig gewesen. Er musste schließlich nur sein Biobuch aus dem Spint holen.
Er eilte wieder nach draußen, immerhin war sein Fahrrad schutzlos der Welt ausgeliefert. Man könnte es klauen oder noch schlimmer... Er stand mit offenem Mund am Rande des Parkplatzes, man könnte es überfahren!?
"Bist du noch ganz dicht?" Schnell ging er rüber zu seinem Rad und legte Tasche und Biobuch zur Seite. Er liebte sein Fahrrad. Zögernd glitt er mit den Fingerspitzen über den Lenker. "Mein Fahrrad...", flüsterte er. Jetzt musste er wohl mit dem Bus nachhause fahren und wie sollte er das seinem Vater erklären?

Nemis sah den Latino aneilen, der sogleich zu seinem Rad stürzte. Sie blieb stehen und sah ihm zu, vielleicht ein bisschen zu anteilnahmslos. "Warte..das ist dein Rad?", ihre Augen hatten sich etwas verschmälert. Er hatte ja schon gesagt, dass es seines war, aber der große Zufall überraschte sie gerade.

Er blickte dem Täter zum ersten Mal richtig ins Gesicht. Sie? Nemis Gray, die andere Unnormale. Mit ihr wollte er eh noch sprechen, aber doch nicht so, sein Fahrrad sollte dafür doch nicht draufgehen. "Natürlich ist das meins!", gab er energisch von sich während er hochkam.

Auch wenn er jetzt in voller Größe da stand, ließ sie sich nicht einschüchtern, sondern lächelte erleichtert und meinte zu sich selbst: "Noch mal Glück gehabt..", ehe sie sich wieder ganz ihm zuwendete. "Hör zu, sorry, aber es liegt ja auch denkbar ungünstig. Wenn ich es nicht umgefahren hätte, hätte es der nächste getan." Sie sagte das mit solch einer Überzeugung, als gäbe es gar kein Problem.

"Willst du mich verarschen?" Er stemmte die Hände in die Hüften. "Als ob du nicht gesehen hast, dass hier ein Fahrrad liegt. Als ob du keine Schuld hättest. Ich war nur kurz drinne um das beschissene Buch hier zu holen." Er trat mit dem Fuß gegen das Buch und dadurch landete dieses auf dem Rücken und lag aufgeschlagen auf dem Asphalt. "Dein sorry ist nichts wert wenn du im selben Atemzug deine Schuld von dir wegschiebst." Auf einer Ebene wusste er, dass es komplett falsch war so mit ihr zu reden, immerhin wollte er ja heraus finden welche Fähigkeit sie genau besaß und wie lange sie daran litt.

Gut, dieser Kerl ging ihr auf die Nerven. Was hielt er ihr denn jetzt hier ne Predigt? Im Hintergrund fuhren die Autos irgendwie an dem Hindernis vorbei, denn nun begann der Ansturm. Aber Nemis hatte jetzt besseres zu tun, als ihr Auto wegzufahren, sie musste sich mit diesem Typen streiten, der sich aufspielte. "Wenn man gerade aus der Kurve kommt und die Sonne plötzlich blendet, rechnet man nun mal nicht mit einem verdammten Fahrrad!", sie nahm ihre Arme zur Hilfe um das Gesagte mit einer Geste zu unterstreichen."Wenn dir dein Rädchen so viel bedeutet, solltest du es vielleicht nicht einfach auf den Boden liegen lassen?!" Sie verschränkte die Arme. Als ob das alles nur ihre Schuld wäre..tz.

"Ich weiß, dass ich es nicht hier hätte liegen lassen sollen. Das war ein Fehler, aber du hast es überfahren.... Woah wie ich Autos hasse." Er sammelte seine Sachen ein, stand dann wieder auf und holte tief Luft, dann drehte er seinen Kopf zu ihr. "Weißt du was aber das Witzigste an der ganzen Sache ist? Ich wollte eh mit dir reden, Nemis Gray."

Na endlich, er zeigte etwas Einsicht. Und mit der Teilschuld konnte sie leben. Aber was er dann sagte, änderte ihren Gesichtsausdruck von angenervt zu überrascht. Woher kannte er ihren Namen und warum könnte er mit ihr reden wollen? "Sag bloß du hast mich doch verpfiffen." Das war das erste was ihr spontan als Grund einfiel. Etwas anderes als diesen Deal hatte sie mit diesem Kerl doch nicht zu tun...abgesehen von seinem zerschrotteten Fahrrad.

"Ach quatsch.", winkte er sofort ab und hatte wieder seine chillige Aura. Joaquin bückte sich nochmal zu seinem Rad runter. "Hier ist nicht der geeignete Ort, außerdem bräuchte mein Fahrrad ne Mitfahrgelegenheit." Er schaute zur Blonden hoch, dann wieder zu seinem Fahrrad. Es war so zerbeult, dass er es nicht einfach so nachhause schieben konnte, deshalb wäre es recht praktisch wenn sie er zu ihm fahren würde.

Erst mal war sie erleichtert. Doch Nemis kam das alles sehr merkwürdig vor. Klang ja nach einem ernsten Thema, wenn man es nicht auf der Stelle klären könnte und irgendwie gefiel ihr das gar nicht. Dass er aufgrund von neulich Verdacht geschöpft haben könnte, glaubte sie allerdings nicht. Sie musterte ihn und zog eine Augenbraue hoch. Eigentlich hatte sie keine Lust ihn irgendwohin zu fahren und dann auch noch über was auch immer zu reden...aber andererseits plagte sie ein, wenn auch minimales, Schuldbewusstsein. Sie zögerte, überlegte, ob sie ihm vielleicht mit ihrer Fähigkeit dazu bringen könnte, einfach zu gehen. Aber hier waren zu viele Zeugen. "Dann lad dein Fahrrad mal rein und nimm dir nen Bus." Sie öffnete ihre Fahrertür und stieg mit einem Grinsen ein.

Mit gerunzelter Stirn ladete er sein Fahrrad hinten ein. Eigentlich könnte er sie anschwärzen dafür, Geld verlangen, vielleicht war sie auch versichert... Auch wenn es nur ein Versehen war, war es doch sein Fahrrad das kaputt war. Er schüttelte die Gedanken erstmal ab, immerhin hatte er sowas wie eine Mission zu erfüllen. Von hinten rief er ihr zu: "Ehrlich gesagt dachte ich du könntest mich auch mitnehmen!"

"Wenn du die Sache mit dem Fahrrad dann auf sich belässt, steig ein!", rief sie zurück, und sah aus dem Rückspiegel zu ihm, da sie ja irgendwie doch nicht drum rum kommen würde, ihn mitzunehmen. So könnte sie wenigstens noch raushandeln, dass er ihr nicht noch Schwierigkeiten wegen dem kleinen Unfall bereitete.

Er zuckte mit den Achseln und ging um das Auto herum. Dann müsste er wohl die nächsten Wochen mit den Bus zur Schule fahren. Was solls.
Joaquin stieg ein und machte die Beifahrertür zu. Er fuhr nicht gerne Auto, aber was blieb ihm für eine andere Wahl? Zudem war das alles so passend.

Dafür dass er am Anfang so einen Aufstand gemacht hatte, gab er sich nun aber schnell zufrieden, dachte sie bei sich, aber das war ihr nur recht. Er saß also neben ihr und sie startete das Auto, fuhr aus der Ausfahrt. "Also wo muss ich dich hinbringen?", fragte sie und sah kurz aus dem Augenwinkel zu ihrem Beifahrer, immerhin musste sie sich auf die Straße konzentrieren.

Joaquin erklärte ihr wo er genau wohnte und blickte dabei aus dem Fenster. Er räusperte sich. "Du fragst dich bestimmt woher ich deinen Namen kenne, nich?" Mit leicht hochgezogenen Augenbrauen drehte er seinen Kopf zu ihr.

Sie legte sich im Kopf schonmal die Route zurecht, die sie also fahren müsste. Sie hatte den Führerschein erst seit kurzem, aber sie war hin und wieder schon auf dem Hof oder sonst wo gefahren, also fuhr sie ganz gut. Umso mehr ärgerte es sie, dass ihr dieses Malheur passiert war, auch wenn ihr Autochen zum Glück nichts abbekommen hatte.
Seine Frage holte sie in die Realität zurück und sie schmunzelte süffisant. "Ohja. Unser Deal war zumindest anders. Also bin ich entweder berüchtigter, als ich dachte, oder du bist einer von diesen Kerlen, die Abends im Bett liegen und alle Namen der Mädchen auf ihrer Schule auswendig lernen." Sie warf ihm wieder einen Sekundenblick zu. "Ehrlich gesagt halt ich das zweite für wahrscheinlicher."

Er setzte einen müden Gesichtsausdruck auf. "Sehr witzig, aber nein." Joaquin dachte kurz nach. Was hatte er zu verlieren? Immerhin war er sich zu 100% sicher, dass sie über eine Fähigkeit verfügte. "Es ist viel mehr so, dass ich über dein kleines Geheimnis bescheid weiß." Zielsicher richtete er seinen Blick nach vorn und fing an ihre Gefühle aufzunehmen.

Nemis schob die Augenbrauen zusammen, riskierte einen etwas längeren Blick zu ihm von der Fahrbahn. Eine kleine Anspannung machte sich in ihr breit, aber dann löste sie sich und sie fragte belustigt mit hochgezogener Augenbraue: "Welches von allen?" Natürlich war ihr zuerst die Sache mit ihren Fähigkeiten eingefallen, was sie beunruhigt hatte, aber dann dachte sie weiter. Es war keine Seltenheit, dass Nemis mal in der Klemme steckte oder kleine Geheimnisse hatte. Also konnte es genauso gut sein, dass er von sowas sprach.

Ihre kurze Anspannung verschmolzen mit einem Beunruhigtsein gab ihm noch mehr Bestätigung und er grinste schief. "Das Geheimnis, das dir verhalf dich vom Nachsitzen wegzuschleichen." Joaquin hoffte sie würde begreifen und nun darauf eingehen.

Und wie sie begriff. Ihr Herz machte kurz einen Hüpfer, aber sie bewahrte die Nerven. Sie bog augenblicklich und etwas abrupt auf den nächsten Parkplatz ein und kam in der erstbesten Parklücke zum Stehen.
Nemis zog die Handbremse und sah tot ernst zu dem Beifahrer. "Du hast keine Beweise." Sie formulierte es zwar als Aussage, aber eigentlich war sie sich dessen nicht sicher und hoffte es einfach mal stark. Das Mädchen überlegte im Kopf was er wollen könnte. Wollte er sie erpressen?

Eigentlich hatte er ncht erwartet, dass sie anhalten würde, aber er fand es gar nicht schlecht. Joaquin zischte die Luft durch die Zähne. "Beweise? Die brauche ich nicht wenn ich es doch schon weiß. Ich spüre nämlich was du fühlst und das bestätigt deine Fähigkeit nur." Er hatte eine Augenbraue hochgezogen und fragte sich ob sie seinen Wink verstand.

Sie musterte ihn mit schmalen, prüfenden Augen. Er hatte also keine Beweise. Sie musste kurz darüber nachdenken, was er damit meinte, dass er spüre was sie fühlt, und fragte dann zögernd nach:"...Weil du dich für nen Frauenversteher hälst, oder weil du auch...was kannst?"

Er lächelte. "Eigentlich ja beides, doch diesmal würde ich wohl das Zweite sagen." Joaquin war froh, nun musste er nur noch herausfinden was sie kann. "Was ist es bei dir genau?", fragte er und drehte seinen Oberkörper zu ihr. "Ich kann anderer Menschen Gefühle spüren." Um das Eis zu brechen fing er dann doch an.

Das fühlte sich extrem komisch an. Sie saß mit einem 12 Klässler in ihrem Auto, vor dessen Augen sie auf spektakuläre Art und Weise aus dem Nachsitzen ausgebrochen war, dessen Fahrrad sie kurz darauf zu Schrott gefahren hatte, und der nun erklärte, dass er Gefühle spüren könne? Das klang sowas von schräg und diese Meinung sah man ihr auch an. Es war nicht so, als würde sie daran zweifeln, es war einfach..freaky. Das erste mal, dass sie mit jemandem über ihre Fähigkeit sprechen könnte und nun war es ausgerechnet dieser Kerl.
Er wusste also noch gar nicht was sie konnte. "Ich kann Fahrräder überfahren, ohne dafür angezeigt zu werden.", antwortete sie spontan und wog innerlich noch ab, ob sie es ihm wirklich sagen sollte.

Er verdrehte die Augen. "Ach komm, ich weiß es muss irgendwas Hypnotisierendes sein. Immerhin hast du die damals gut zum Einschlafen gebracht."
Wieso war sie so misstrauisch? Immerhin wusste er bereits, dass sie etwas konnte, was war also falsch daran genau zu wissen was sie drauf hatte.